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Gibt es auch zu viel Empathie, Herr Thiry?

fragt eine Teilnehmerin im Seminar. Kommt darauf an, was Sie darunter verstehen, antworte ich.

Im Alltagsverständnis ist Empathie oft mit der Erwartung verknüpft, die Wünsche einer anderen Person zu erkennen und zu erfüllen oder ganz allgemein helfen zu wollen. Es liegt nahe, dass diese Erwartung insbesondere im Alltag von Gesundheits- und Sozialberufen schnell an Grenzen stoßen muss. Es fehlen schlicht die personellen und materiellen Ressourcen, alle Wünsche zu erfüllen. Und es ist fraglich, ob dies überhaupt der professionelle Auftrag sein kann. Ganz im Gegenteil wird von Angehörigen der genannten Berufe gefordert, professionelle Distanz zu wahren und Grenzen zu setzen.

Foto mit Ludwig Thiry, daneben der Text, Herr Thiry, was ist denn eigentlich Empathie?

In einer psychologischen Defintion bedeutet Empathie das Erkennen der Gefühle einer anderen Person und das Mitschwingen dieses Gefühls in der Person, die empathisch ist. Dabei weiß die empathische Person aber immer, dass dieses Gefühl von der anderen Person ausgeht und nicht ihr eigenes ist. Nach dieser Defintion ist Empathie nicht identisch mit einer möglicherweise daraus folgenden Handlung. Sie bereitet das Helfen vor, ist aber nicht damit gleichzusetzen.


Hohe Anzahl und schneller Wechsel von emotionsgeprägten Interaktionen führt zu empathischem Stress

Auch diese Form der Empathie kann im Alltag insbesondere von Menschen in Gesundheits- und Sozialberufen an ihre Grenzen kommen. Stellen Sie sich einen ganz normalen Alltag auf einer onkologischen Krankenhausstation vor. Im ersten Zimmer freut sich gerade ein Patient über den Erfolg seiner Stammzelltherapie und kann am nächsten Tag entlassen werden. Im nächsten Zimmer hat eine Patientin große Angst vor genau derselben Therapie, die in wenigen Tagen beginnen soll. Sie teilt sich das Zimmer mit einer anderen Patientin, die niedergeschlagen ist, weil sie durch eine lang anhaltende Aplasie einen harten Rückschlag erlitten hat. Und schließlich begegnen Sie auf dem Flur einem aufgebrachten Patienten, der wegen eines Organisationsdefizits das lang erwartete CT nicht erhalten hat.


Alle diese Patient*innen erwarten die empathische Zuwendung durch das pflegerische und medizinische Personal. Und sie sind nicht die einzigen, die auf dieser Station liegen. Die schiere Anzahl und der schnelle Wechsel von hochemotionalen Interaktionen sind charakteristisch für die Arbeit in akuten klinischen Settings genauso wie in der Langzeitversorgung. Immer gleich intensiv mitzufühlen, führt auf Dauer zu empathischem Stress, selbst bei den meist hochresilienten Menschen in den Gesundheits- und Sozialberufen.


Wie Pseudo-Empathie vor empathischem Stress schützt

Unsere Psyche hat einen natürlichen, schnell wirkenden Mechanismus, der vor empathischem Stress schützt. Richard Lazarus und Susan Folkman haben beschrieben, wie eine innere Bewertungsinstanz unsere Erlebnisse danach beurteilt, ob sie relevant für uns sind, wie stark sie uns belasten und ob wir die Fähigkeit haben sie zu bewältigen. Je nach Bewertung dieser drei Kriterien lassen wir uns auf die Situation ein oder erhalten den Impuls, sie möglichst zu verlassen. Dies geschieht in sozialadäquater Form durch pseudo-empathische Reaktionen. Sie sind freundlich und scheinbar empathisch formuliert, haben aber nicht das Ziel, die andere Person wirklich emotional zu erreichen oder zu unterstützen. Sie dienen vielmehr hauptsächlich der Bewältigung der eigenen Überforderung. „Das wird schon wieder.“ oder „Kopf hoch.“ heißt es dann, um aus dem Kontakt gehen zu können.


Pseudo-Empathie fördert im beruflichen Kontext die Entstehung von Burnout und Coolout

Dieser Schutzmechanismus ist bei allen Menschen wirksam und im Alltagsleben in der Regel unbedenklich. Unsere Kollegin Victoria Schönefeld hat ausführlich beschrieben, wie pseudo-empathische Reaktionen im beruflichen Kontext aufgrund von zwei Faktoren ihre Schutzfunktion verlieren können. Dies sind die Unauthentizität oder, wie Arlie Hoschildt es bezeichnet hat, die emotionale Dissonanz bei pseudo-empathischen Reaktionen und ihre Kumulation in den vielen, schnell aufeinanderfolgenden Situationen, die oben beschrieben sind.


Zielrichtung pseudo-empathischer Reaktionen ist die schnelle Regulation der eigenen und der fremden Gefühle. Dabei stellt eine Person nach außen andere Gefühle dar als sie im Inneren erlebt.

„In mir tobt der Wirbelsturm, aber nach außen zeige ich ein lächelndes Gesicht“, so beschrieb eine Teilnehmerin im empCARE-Seminar einmal diesen Zustand.

Das Erleben der Unauthentizität geht mit dem Erleben einher, auf eine Situation nicht wirklich adäquat zu reagieren, ihr nicht gewachsen zu sein. Wenn Angehörige von Gesundheits- und Sozialberufen ihre Interaktionen über Jahre und in der beschriebenen hohen Frequenz so gestalten, kann dies zur Entwicklung eines Burnout oder zu dem in der Pflegewissenschaft beschriebenen Coolout beitragen.


Professionelle Nähe schützt besser als professionelle Distanz

Mit empCARE haben wir die Fragerichtung geändert. Für uns stellt sich nicht so sehr die Frage, ob es zu viel oder zu wenig Empathie geben kann oder wie Menschen in Gesundheits- und Sozialberufen professionelle Distanz wahren können. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie Menschen professionelle Nähe gestalten können, ohne in die Falle pseudo-empathischer Reaktionen zu laufen.



Literatur zum Thema


Richard Lazarus, Susan Folkman (1984) Stress, appraisal, and coping. Springer, New York


Arlie Hochschild (1983) The managed heart: commercialization of human feeling. University of California Press, Berkeley


Victoria Schönefeld (2019) Pseudo-Empathie – Theorieentwicklung und empirische Beiträge. Dissertation, Universitätsbibliothek der Universität Duisburg-Essen, Essen


Victoria Schönefeld, Tobias Altmann (2021): Theoretischer Hintergrund des empCARE-Trainings – Empathiedefinition, zentrale Konzepte und Wirkmechanismen. In: Ludwig Thiry, Victoria Schönefeld, Marius Deckers, Andreas Kocks: empCARE - Arbeitsbuch zur empathiebasierten Entlastung in Pflege- und Gesundheitsberufen. Springer Heidelberg


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